Wie viel Mut gehört dazu, sich als Schwabe zu outen? Warum zählt man, wenn man’s tut, zu den „100 peinlichsten Berlinern“?

Als ob die Nation nur das Problem der sexuellen Orientierungslosigkeit hätte! Wer, bitte schön, kümmert sich um jene Menschen, die etwas anders sind, weil sie etwas anders reden? Diese Menschen müssen fern ihrer Heimat einen elementaren Teil ihres Lebens verbergen, weil sie sonst vom Sturm der Diskriminierung weggefegt werden würden. Aus der Hauptstadt hat mich folgende erschreckende Nachricht erreicht, von der ich mich bisher nicht erholen konnte:

„Noch immer müssen viele Berliner Prominente ihr Schwabentum vor der Öffentlichkeit verstecken. Es ist die Suebophobie einer Gesellschaft, die sich tolerant nennt. Wann endlich kann ein Schwabe auch öffentlich so sein, wie ein Schwabe von Natur aus ist?“

Absender: Free Schwabylon. So nennt sich jene autonome Gruppe, die am Dienstag den ersten Jahrestag ihres Spätzle-Anschlags auf das Kollwitz-Denkmal in Berlin gefeiert hat. Selbst die „New York Times“ hatte über den Aufstand berichtet, über „german migrants from Swabia, a region just west of Munich“. Westlich von München sind wir also – wer hätt’ au des denkt?

Eine Mauer aus Maultaschen wollten die schwäbischen Separatisten in Berlin errichten, ein freies Schwabylon ausrufen – und werden bis heute von den Ureinwohnern nicht verstanden. In der Liste der 100 peinlichsten Berliner von 2014, vom Stadtmagazin „Tip“ aufgestellt, ist Free Schwabylon auf Platz 52 gelandet. „Viel Radau, sonst nichts“, urteilt die Jury, „selten haben Bezirksreformer so versagt wie Free Schwabylon.“ In diese Hitparade der peinlichsten Berliner, bei der Musiker Bushido auf Platz eins kam (vor Zoo-ChefBernhard Blaszkiewitz und vor Comedy-Nervensäge Cindy aus Marzahn), hat es ein weiterer Schwabe geschafft: Designer Harald Glööckler landete als „Nöö-Sager“ auf Platz 49.

Verbotschwaben„Mit unserem Platz 52 lief alles richtig!“, hat ein wie immer anonymer Sprecher von Free Schwabylon über geheime Mittelsmänner wissen lassen. Auf meine Frage, wen die Spätzle-Werfer bei einer imaginären Liste der peinlichsten Schwaben vorne sehen, bekam ich folgende Antwort: „Zur Stuttgarter Regionalprominenz äußern wir uns nicht.“ Kann man durchaus verstehen. Denn gibt es etwa 100 peinliche Schwaben? Sind Schwaben nicht per se das Gegenteil von peinlich?

Was ist uns heute überhaupt noch peinlich? Die meisten Menschen, die peinlich sind, merken es selbst nicht mal. Andere wollen daneben sein, das finden sie cool. Im Internet gibt es bei Facebook die Gruppe „Lasst uns peinlich sein“. Früher waren uns wenigstens noch unsere Eltern peinlich. Doch kürzlich sagte mir ein 14-jähriges Mädchen, ihre Eltern seien cool, überhaupt nicht peinlich.

Aber es gibt wenigstens noch peinliche Krankheiten. Mit Analthrombosen, Genitalwarzen und Schamläusen geht kaum einer gern zum Arzt. Kann Menschen, die in Berlin ihr wahres schwäbisches Gemüt hinter hochdeutscher Sprachfärbung verbergen, medizinisch geholfen werden? Wohl kaum. Also warten wir auf die ersten Outings im Prenzlauer Berg. Es ist eine Schande, wenn in der heutigen Zeit Mut dazu gehört, sich zu seiner naürlichen Veranlagung zu bekennen: „Ich bin ein Schwabe, und das ist gut so.“

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